
Die Zürcher Disputationen am 29. Januar und 26. Oktober 1523 waren öffentliche Streitgespräche, die Zwingli führte – vorgeladen von der Zürcher Regierung. Gegen Zwingli waren Vorwürfe der Ketzerei erhoben worden. 2023 greifen Anlässe wie Tischgespräche und Debatten Aspekte der Disputationen von 1523 auf. Einen Überblick über alle Veranstaltungen der Kirchgemeinde Zürich im Rahmen der Disputation 2023 finden Sie hier.
Vor 500 Jahren legte Zwingli die Grundlagen der modernen Diskussionskultur. Am 29. Januar 1523 berief er die erste Zürcher Disputation ein und legte damit den Grundstein dazu, dass wir noch heute frei über politische Belange diskutieren und mitentscheiden können. Mit den Tischgesprächen in der Wasserkirche aufersteht der Geist der Disputation. Eine erste Debatte hat am 30. März stattgefunden; drei noch folgende Veranstaltungen laden im Verlauf dieses Jubiläum-Jahres zum Mitdisputieren ein.
Frisches Brot, aufgetischt auf einem rustikalen Brett, dazu Wein und Wasser aus Glaskaraffen. An den einzelnen Tischen, auf schlichten Bänken, je eine Gruppe Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft. Sie haben sich mit der einen Absicht zusammengefunden: Debattieren über ein bestimmtes Thema. Eine Szenerie, die – grob skizziert – die Tischgespräche im März 2023 in der Zürcher Wasserkirche abbildet.
Blenden wir 500 Jahre zurück; an jenen Punkt in der Geschichte, der nicht nur Ursprung der heutigen Tischgespräche ist, sondern der auch für Gesellschaft und Kirche eine Zeitenwende bedeutete.
Das Jahr 1523 gilt für Zürich und die Reformation als ein denkwürdiges: Am 29. Januar sowie vom 26. bis 28. Oktober jenes Jahres fanden die beiden Disputationen im Ratshaus statt. 600 Personen – davon ein Drittel Ratsherren und zwei Drittel Geistliche – disputierten unter der Leitung des damaligen Bürgermeisters Markus Röist. In den Disputationen kam es zu öffentlichen Streitgesprächen vor dem Rat, welche diesen veranlassten, reformatorischen Forderungen zum Durchbruch zu verhelfen. Am Schluss der ersten Disputation erklärte der Rat die schriftgemässe Auslegung der Bibel – die Predigt – zur Pflicht für alle Pfarrer. Zwingli hatte sich durchgesetzt.
Die Erste Züricher Disputation bedeutete für Zürich den entscheidenden Schritt hin zu einer gesellschaftlichen und kirchlichen Erneuerung. Diese Form der Versammlung war damals völlig neu: Sie entsprach weder den akademisch-theologischen Disputationen noch den kirchlichen Synoden. Die politische Obrigkeit spielte eine zu grosse Rolle. «Dem Ereignis Zürcher Disputation wird man nur gerecht, wenn man es als Laboratorium zur Aufdeckung der Wahrheit in einer Zeit der akuten religiösen Unsicherheit betrachtet», erläutert Martin Rüsch, Pfarrer am Grossmünster, Initiant und Organisator der Tischgespräche in der Wasserkirche. «Religiöse Unsicherheiten und gesellschaftspolitische Transformationen bedingten sich zu Zwinglis Zeit unmittelbar – religiöse, gesellschaftliche und politische Aufbrüche kennzeichnen auch die heutige Zeit. Im Laboratorium Zürcher Disputation schwang damals ein grosses Potenzial zivilgesellschaftlicher Kraft mit», führt Rüsch aus. Eine Kraft, die 500 Jahre danach in einer zeitgemässen Form des «Laboratoriums» wieder auflebt, indem Menschen unterschiedlichster Ausrichtung zentralen Fragen der heutigen Zeit gemeinsam auf den Grund gehen.
Klingt theoretisch, bedeutet aber praktisch: Das Disputieren soll in der Kirche und für die Kirche aktualisiert werden. Zum Beispiel in Form der Tischgespräche. «Ein bestimmtes Thema vermittelt jeweils den Impuls zu den Tisch-Debatten. Die Debatte ist Ziel und Zweck allein; weder gilt es einen Leistungsauftrag zu erfüllen noch wird ein Ergebnisprotokoll erstellt», betont Martin Rüsch. «Unterschiedliche Sichtweisen, Lust und Frust sollen und dürfen auf den Tisch kommen und diskutiert werden, ohne dass dabei Entscheidungen getroffen werden müssen; mitten in unserer Stadt, unter dem weiten Dach der Wasserkirche.»
60 Männer und Frauen haben Ende März dazu beigetragen, im Rahmen des Jubiläumsjahres «500 Jahres Zürcher Disputationen» die Tischgespräche in ihrer ursprünglichen Dynamik neu aufleben zu lassen. Über dem ersten von vier in diesem Jahr stattfindenden, thematisch fokussierten Tischgesprächen in der Stadt Zürich stand die übertitelte Inschrift «Kirche und Gesellschaft».
«Viel Gesprächsstoff lieferte allein die Frage, wie Menschen vor dem Hintergrund ihres unterschiedlichen gesellschaftlichen Standpunkts die Kirche sehen und welche Rolle die Kirche in der Gesellschaft spielt», fasst Martin Rüsch den ersten Debattier-Abend konzis zusammen. Bei diesen eher allgemeinen Fragen blieb es allerdings nicht. Im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Prioritäten (Klima, Krieg, Wohnungsnot, Gesundheit, Finanzen, etc.) wurde an den einzelnen Tischen lebhaft darüber debattiert, in welchen Bereichen, wie und aus welchen Gründen sich die Kirche künftig verstärkt engagieren soll. «Uns beschäftigt und interessiert, wo wir im Hinblick auf aktuelle Themen und gesellschaftlich brennende Fragen in unserer Kirche stehen», ergänzt Martin Rüsch und betont: «In der heutigen Zeit, die geprägt ist von Veränderungen und Polarisierungen halten wir es für besonders wichtig, miteinander ins Gespräch zu kommen – und im Gespräch zu bleiben.»
Nun denn: Ist es gelungen, den Geist der Disputation wieder auferstehen zu lassen? «Ja», sagt Martin Rüsch. «Das Wesen des Disputierens und damit verbunden die Bedeutung der individuellen Sichtweise und Sprache hat unsere Tische erreicht und die Teilnehmenden ergriffen», stellt er in der Retrospektive fest. Dieser Geist wird nun lebendig gehalten und soll sich fortpflanzen; vorderhand innerhalb von drei weiteren Tischgesprächen, die im Verlauf dieses Jubiläums-Jahres stattfinden (Termine siehe am Ende des Beitrags).
Und danach? Werden die Tische und Bänke wieder verräumt und der Geist der Disputation für weitere 500 Jahre zwischen den Umschlagsseiten der Geschichtsbücher zur Ruhe gelegt – oder könnte die Kirche mit dieser reaktivierten Tradition gar eine Lücke füllen? Zum Beispiel, indem sie dem existenten gesellschaftlichen Bedürfnis nach Austausch in einer Zeit voller Herausforderungen auch über das Jubiläums-Jahr hinaus nachkommt und den Setting-Mix von «Abendmahl und Stammtisch» auch künftig kultiviert? «Durchaus», ist Martin Rüsch der Auffassung. «Die Fortsetzung der Tischgespräche, in welcher Form auch immer, wäre aus meiner Sicht eine schöne, menschenzusammenbringende und ideenverdichtende Form des Kirche-Seins bzw. Kirche-Werdens. Immerhin gibt es unzählige aktuelle Themen und mindestens so viele aus früheren Zeiten, über die zu diskutieren sich unbedingt lohnt.»
Die Zürcher Disputationen am 29. Januar und 26. Oktober 1523 waren öffentliche Streitgespräche, die Zwingli führte – vorgeladen von der Zürcher Regierung. Gegen Zwingli waren Vorwürfe der Ketzerei erhoben worden. 2023 greifen Anlässe wie Tischgespräche und Debatten Aspekte der Disputationen von 1523 auf. Einen Überblick über alle Veranstaltungen der Kirchgemeinde Zürich im Rahmen der Disputation 2023 finden Sie hier.
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