Judas ist wohl eine der am meisten geächteten Figuren der Menschheitsgeschichte. Zu Recht? Wir sprachen mit Jörg Frey, Professor für Neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Zürich.
«Wenn sein Tun von Gott so gewollt und benutzt wurde, kann er dann noch ‹schuldig› sein?», fragt Professor Jörg Frey, der an der Universität Zürich in der Neutestamentlichen Wissenschaft forscht. Die Rede ist von Judas Iskariot, wohl eine der am meisten geächteten Figuren der Menschheitsgeschichte. Er gilt als Verräter von Jesus, teils als vom Teufel getrieben. Aber wird er zu Recht so geächtet?
«Wohl kaum», sagt Jörg Frey. Die von ihm aufgeworfene Frage vom Anfang verdeutlicht, dass die Figur des Judas deutlich komplexer ist, als seine populäre Rezeption vermuten liesse.
Über den historischen Judas ist wenig bekannt
Dass die Figur des Judas schwer fassbar ist, fängt schon bei der Tatsache an, dass über den historischen Judas kaum etwas bekannt ist. «An den historischen Judas und seine inneren Motive kommen wir kaum mehr heran», sagt Professor Jörg Frey. Die definitiv älteste Überlieferung finde sich im Markusevangelium, dem Matthäus und Lukas weithin folgen. Hier sei Judas einfach einer aus dem Schülerkreis Jesu, so Jörg Frey. «Sein Beiname Iskariot meint wohl ‹Mann aus dem Dorf Keriot›.» Sein Vorname gehe zurück auf «Juda», den Sohn Jakobs. Sonst wisse man sehr wenig. Die Überlieferungen würden sich teilweise widersprechen, etwa was den Tod von Judas betrifft. Matthäus berichtet von einem Selbstmord, die Apostelgeschichte des Lukas von einem Unfalltod. Feststeht eigentlich nur, dass Judas nach dem Tod und der Auferstehung Jesu nicht mehr zu seinen Anhängern zählte.
Weitgehend einig sind sich die verschiedenen Überlieferungen aber darin, was auch heute noch den Kern der Judas-Figur ausmacht. Nämlich darin, dass Judas Jesus seinen Gegnern ausgeliefert hat. Eben auch schon im ältesten der biblischen Evangelien, dem Markusevangelium. «Schon hier ist Judas klar als der gekennzeichnet, der es den Tempelbehörden ermöglicht, Jesus unauffällig zu verhaften – ohne dass eine grössere Volksmenge darauf aufmerksam wird und es gegebenenfalls zu Tumulten kommt», sagt der Professor Jörg Frey. Er führte demnach die Wachen zum gewöhnlichen Aufenthaltsort Jesu, und mit dem berühmten Judaskuss zeigte er ihnen an, «welcher aus der grossen Gruppe bärtiger Männer der eigentlich Gesuchte war».
Jesus weiss, dass er verraten wird
Schon bei Markus weiss Jesus aber bereits im Voraus, dass er verraten werden wird. Diese Tradition werde danach auch beim späteren Johannes weitergedeutet, wo Jesus sich ganz freiwillig und selbstständig in den Tod begibt, also eigentlich gar nicht Opfer eines Verrats sein könne, wie Jörg Frey sagt. Bei Johannes fällt denn auch der Kuss weg. Stattdessen liefert sich Jesus hier mit den Worten «Ich bin’s» selbst aus.
Und eben dieses Vorauswissen macht Judas zu einer so komplexen Figur. «Jesu Jünger, also auch Judas, hatten wohl Hoffnungen, er werde vielleicht die Römer vertreiben und eine neue Herrschaft aufrichten, an der sie auch beteiligt wären», erklärt der Theologe. «Dass alles ganz anders kommen sollte, verstanden sie nicht.» Das, was eben anders kam, ist das christliche Heilsgeschehen. Und dafür war Judas in gewissem Sinn notwendig – denn was wäre geschehen, wenn Jesus nicht ausgeliefert worden wäre?
Die Osterbotschaft gilt auch für Judas
Und damit zurück zur eingangs gestellten Frage: Kann Judas dann noch schuldig sein, wenn sein Verrat Teil des göttlichen Heilsplans war? Judas personifiziert damit das Paradox zwischen individueller Schuld und göttlicher Vorherbestimmung. Und seine Figur ist damit viel zu komplex, als dass ihr die Ächtung, die sie während der letzten 2000 Jahre erfuhr, gerecht werden würde. Was eigentlich schon sehr unmittelbar nach seinem Verrat klar wird. Nämlich als Jesus am Kreuz zum Herrn sagt, er solle ihnen vergeben. «Und das sollte auch für Judas gelten», sagt Jörg Frey.
Von Nena Morf, Redaktion reformiert.lokal Kirchgemeinde Zürich
Prof. Dr. Jörg Frey
Seit 1. April 2010 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaft mit den Schwerpunkten Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Er ist zugleich Research Associate der University of the Free State in Bloemfontein (Südafrika).
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