ZEITKAPSELN AUF KIRCHTÜRMEN


Viele Turm­kugeln haben ein ge­schichts­träch­tiges Innen­leben: Sie be­her­ber­gen his­to­rische Doku­mente, Münzen und wei­tere Kurio­si­täten. Der Schweizer Ge­schichts­pro­fessor Beat Kümin stöbert mög­lichst viele dieser Schätze auf: Fündig wurde er auch in der refor­mier­ten Kirch­gemeinde Zürich.

Bleiplatten_Kirchturmspitzen_Sammelbild_(c)_Sabine Alt
Diese faszi­nierenden Blei­platten aus der Turm­kugel von St. Peter liegen heute im Archiv der Pfarr­gemeinde. © Sabine Alt



Hoch oben zwischen Himmel und Erde schweben sie: Zeit­zeugen, die die Jahr­hunderte über­dauern – ein­ge­lagert in ver­gol­deten Kugeln auf Turm­spitzen. Turm­kugeln können einen Durch­messer von bis zu ein­einhalb Meter haben und Hunderte Kilo­gramm schwer sein. Oft beher­bergen sie Doku­mente, die von lokalen Er­eig­nissen wie Hungers­nöten, Kirchen­ein­weihungen, Kriegs­gefahren oder Wetter­phäno­menen er­zählen. Gemeinde­mit­glieder früherer Jahr­hunderte haben sie in luf­tiger Höhe ein­ge­lagert; als Bot­schaften an die Nach­welt. «Oft baten die Menschen auch um Schutz und Für­sorge», sagt Beat Kümin, Pro­fessor für euro­päische Geschichte der Frühen Neu­zeit an der Uni­versity of Warwick in Eng­land. «Die Doku­mente wurden dort platziert, wo Gott den Menschen am nächsten schien.»

Zwiegespräch über Jahrhunderte

Auch in den Turm­kugeln der refor­mierten Kirch­gemeinde Zürich lagern viele histo­rische Doku­mente: Neben Briefen, Personen­ver­zeichnissen oder Repara­tur­berichten finden sich auch Münzen, Bau­pläne oder wie im Frau­münster sogar ein Schild­kröten­panzer – als Schutz­symbol nach einem Blitz­ein­schlag. Damit sie der Witterung stand­halten, wurden die Mate­rialien in Hülsen, Röhrchen oder Schach­teln ver­packt – soge­nannte Ein­lagen. Turm­kugeln werden selten und nur aus bestimmten Gründen geöffnet – zum Bei­spiel, wenn Reno­vations­arbeiten am Turm an­stehen. In der Regel legt die Ge­meinde die Ein­lagen ihrer Vor­fahren nach der Durch­sicht wieder zurück – und er­gänzt die histo­rischen Ein­lagen um eine aktu­elle. Beat Kümin: «Damit wird durch­schnitt­lich alle sechzig Jahre ein Schein­werfer auf das All­tags­leben der Menschen ge­richtet.» Den Men­schen sei klar, dass eine Turm­kugel zu ihren Leb­zeiten ver­mut­lich nicht mehr geöffnet würde. Beat Kümin beschreibt viele der Doku­mente als eine Art Zwie­gespräch mit späteren Gene­rationen: «In den Schrift­stücken schlagen die Personen fast einen ver­trauten Ton­fall an.»

Schatz unter Dorflinde
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Die refor­mierte Kirch­gemeinde Zürich ge­währte Beat Kümin Zu­tritt zu ihrem neuen Zen­tral­archiv, das sich in der Kirche Auf der Egg in Wollis­hofen be­findet – auch das Archiv der Kirch­gemeinde St. Peter diente ihm als Recherche­ort für sein Pro­jekt. Von hier stammt ein äusserst be­ein­drucken­der Fund: gra­vierte Metall­plättchen aus den Jahren 1505 und 1641. Ein wei­terer inte­res­santer Fall ist Albis­rieden: Hier gibt es sogar Ein­lagen in einer Scha­tulle unter der Dorf­linde. Die Scha­tulle wurde 1951 mit Schriften, Zei­tungen sowie Münzen ge­füllt und 2021 ent­deckt, als die Dorf­linde durch eine neue er­setzt werden musste. «Als man die neue pflanzte, hat man den Brauch fort­geführt», so Beat Kümin. «Für mich als Histo­riker ist es beson­ders wert­voll, wenn sich diese Fund­stücke weit in die Ver­gangen­heit er­strecken; manch­mal befinden sie sich seit dem Spät­mittel­alter am gleichen Ort.»

Geheime Botschaften

Was genau in den Turm­kugeln gela­gert wird, ver­raten die Ver­ant­wort­lichen oft nicht. Ab und zu wird den­noch aus dem Nähkästchen ge­plaudert. Beat Kümin: «Heute hinter­lässt man der Nach­welt etwa einen Covid-Test, ein Foto einer Kon­fir­mations­klasse oder einen USB-Stick mit Video­bot­schaften.» Länger­fristig er­hofft sich Beat Kümin Ein­blick in gene­rellere For­schungs­fragen wie: Was für Iden­titäten hatten die Men­schen? Welche räum­lichen Hori­zonte lassen sich belegen? Und: Wie haben sich glo­bale Ereig­nisse auf die Menschen vor Ort aus­gewirkt? «Durch die Funde erfährt man, wie sich Men­schen in einer be­stimmten Gemeinde selbst ge­sehen haben», so Beat Kümin. Je länger er daran forscht, desto mehr gelangt er auch zur Über­zeugung, dass die an den Bauten und Reno­vationen betei­ligten Hand­werker für den Brauch sehr wich­tig waren. «Womög­lich waren es gar sie, die ihn initi­ierten.»




Die Website des von der Gerda Henkel Stif­tung geförderten Pro­jektes bietet viele Infor­mationen zu Stadt und Kanton Zürich:

↗  Link zur Projekthomepage

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