Urban und vielfältig: Kirchenkreis vier fünf

STOLPERSTEINE GEGEN DAS VERGESSEN


Die Idee, kleine Gedenktafeln vor Wohnorten von Opfern des Faschismus in den Boden zu verlegen, stammt vom deutschen Künstler Gunter Demnig. 1992 hat er die ersten Steine gesetzt, zum 50. Jahrestag der Deportation von 1000 Sinti und Roma aus Köln. Auf den Messingtafeln sind Namen und Lebensdaten der Deportierten festgehalten. Die von den Nazis zu Nummern degradierten Menschen sollen ihre Namen zurückerhalten – am Ort ihres Lebens, in unserem Alltag.  «Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist», dieser Satz aus dem Talmud hat Demnig inspiriert. "Es geht nicht darum, dass wir mit den Füssen über diese Steine stolpern - man soll mit dem Kopf und mit dem Herzen stolpern" erklärt Demnig.

Ein Artikel von Hannes Lindenmeyer, mit Erlaubnis der Zeitschrift A-Bulletin; der Artikel ist dort am 10.12.20 erschienen.

Die Schweiz als Nachzüglerin

In Europa sind 75›000 Stolpersteine versetzt: In 1200 deutschen Städten und in 25 Ländern. In der Schweiz gibt es bis jetzt nur zwei Steine in Kreuzlingen und einen in Tägerwilen TG: Dort wohnten Grenzgänger, die in der Nachbarstadt Konstanz in die Fänge der Nazis gerieten. Das bisherige Abseitsstehen der Schweiz  bei dieser Gedenkaktion hängt wahrscheinlich mit dem landläufigen Geschichtsverständnis zusammen, dass die Schweiz im 2. Weltkrieg nicht besetzt war und deshalb hier keine Nazi- Opfer zu beklagen seien. Selbst historisch Informierte staunen, wenn sie hören, dass 719 Menschen – etwa die Hälfte von ihnen mit schweizerischem Bürgerrecht, die andern in der Schweiz geboren und aufgewachsen – in einem KZ inhaftiert waren; 263 überlebten, die andern wurden ermordet oder starben an den KZ-Folgen. Fast 30 Jahre nach Beginn der europaweiten Stolperstein- Aktion schliesst sich nun die Schweiz an, in Erkenntnis: Wir sind auch da kein Sonderfall. Würden Stolpersteine auch dort gesetzt, wo Menschen an der Schweizergrenze zurück in den Tod geschickt wurden, wäre der Boden unserer Zollstationen mit tausenden von Messingtafeln gepflastert.

Wer waren die KZ- Häftlinge aus der Schweiz?

Die menschenverachtende Katalogisierung der KZ- Häftlinge unterschied – mit farbigen Winkeln an der gestreiften Häftlingskleidung gekennzeichnet – zwischen Roma und Sinti, Juden, Politischen, Homosexuellen, Zeugen Jehovas, Kriminellen und als "Asoziale" verunglimpften. Die meisten Inhaftierten mit Bezug zur Schweiz wurden aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt. Die Schweizer Behörden waren über fast alle einzelnen Fälle informiert. Für einige setzten sich die Konsulate in den besetzten Ländern und der Botschafter in Berlin ein. Für viele aber nahmen die offiziellen Stellen der Schweiz ihre Verantwortung für ihre Landsleute nicht oder nur halbherzig  wahr, ja sie kooperierten sogar mit der Gestapo. NS- Urteile gegen politisch Verfolgte wurden als rechtmässig anerkannt, insgeheim dankbar, wenn es auf diese Weise gelang, Linke von der Schweiz fernzuhalten. Rassistisch verfolgten Frauen, die ihren Schweizerpass nach der Heirat mit einem Ausländer abgeben mussten, wurde der Flüchtlingsstatus aberkannt und die Rückkehr in die Schweiz, ihr eigentliches Heimatland, verweigert.

Drei Beispiele: Der junge Heizungsmonteur Albert Mülli überlebt Dachau  

Der 22-jährige Albert Mülli wird 1938 – er ist in dieser Zeit arbeitslos -  in Wien verhaftet weil er einen Koffer mit kommunistischen Flugblättern ins besetzte Oestereich schmuggelt. Er kommt in U- Haft. Die Schweizer Behörden interessieren sich für seinen Fall, aber nicht etwa um dem jungen Schweizer beizustehen: Sie fordern von der Gestapo Unterlagen an, um das politische Umfeld von Mülli in der Schweiz auszukundschaften. 1940 wird Mülli wegen Umsturzversuch vom Volksgerichtshof verurteilt. 1942, nach ende der Haftzeit, wird er ins KZ Dachau überstellt: Diese Massnahme sei zum Schutze des Deutschen Reichs bei politischen Häftlingen erforderlich, wird den Schweizer Behörden erklärt, die sich damit zufrieden geben - dies obschon sie spätestens seit 1935 durch Berichte von Häftlingen, denen die Flucht aus einem KZ gelungen war, über die Misshandlungen und die Todesgefahren in den Lagern eigentlich im Bilde waren. Aber der Bundesrat blieb lange gegenüber diesen Berichten skeptisch weil sie von politisch engagierten Linken stammten.

Mülli überlebt die drei Jahre KZ dank seines handwerklichen Geschicks: Er wird im KZ zum Unterhalt der Villen und Unterkünfte der KZ-Schergen  eingesetzt. So kann er bis zur Befreiung durch die Alliierten im Jahr 1945 durchhalten.

Josef Traxl, in Zürich geborener Österreicher, homosexuell, ermordet in Buchenwald

Seit seinem 17. Lebensjahr schlägt sich der in der Schweiz geborene Gelegenheitsarbeiter Josef Traxl – er hat in Zürich die obligatorische Schule durchlaufen – als Strichjunge durch. Er wird zwischen 1925 und 1935 mehrmals wegen Unzucht verhaftet und schliesslich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach deren Verbüssung wird er auf unbestimmte Zeit in der Strafanstalt Regensdorf interniert, als "ständige Gefahr für die Mitmenschen". Die Schweizer Behörden ersuchen Österreich "Traxl mindestens für eine längere Zeit in einer geeigneten heimatlichen Anstalt zu versorgen".  Der Schweizer Botschafter in Wien interveniert mehrmals, um die Österreicher dazu zu bewegen, Traxl endlich zu übernehmen. Erstaunlicherweise teilen diese im Juli 1937 mit, die (damals noch) geltenden österreichischen Vorschriften böten keine Handhabung, Traxl aufgrund seiner widernatürlichen Veranlagung zu internieren. Daraufhin überstellen die Schweizer Traxl kurzerhand bei einer Nacht und Nebel Aktion an die österreichische Grenze. Er wird zu einem unbekannten Zeitpunkt von den Nazis verhaftet, ins KZ Buchenwald deportiert und dort am 24. August 1941 getötet.

Lea Bernheim, Auslandschweizerin, mit ihrem 3-jährigen Sohn Alain in Auschwitz ermordet

Geboren wurde die Schweizerin jüdischen Glaubens Lea Bernheim in Buenos Aires; in den späten 1930-er Jahren lebt sie in Zürich, heiratet einen Franzosen und verliert dadurch ihre Schweizer Staatsbürgerschaft. Sie wird 1944 zusammen mit Familienmitgliedern und ihrem 2-jährigen Sohn Alain in Frankreich verhaftet und nach Auschwitz überführt. Die Schweizer Behörden lehnen es ab, sich für Lea und ihr Kind einzusetzen, da sie keine Schweizer Bürger seien. Das Kind könnte "ev. In die Schweiz kommen, aber dafür brauchte es eine Bewilligung der eidgenössischen Fremdenpolizei, es sei aber kaum möglich, eine Ausreisebewilligung der französischen Besetzungsbehörden zu bekommen". Lea und ihr Sohn Alain werden im Februar 1945 in Auschwitz ermordet.   

Mitschuld der Schweizer Behörden

Die drei Beispiele zeigen eindrücklich die Mitschuld der Schweizer Behörden. Mitte der 1930-er Jahre, als die Nazis das KZ-System aufbauten, verliessen sich die zuständigen Amtsstellen in der Schweiz blauäugig auf die beschönigenden Berichte über "Schutzhaft" und "Arbeitserziehung". 1938 besuchte eine Delegation des IKRK unter Führung eines Schweizers das KZ Dachau. Der Delegationsleiter hielt in seinem Bericht fest, er habe bezüglich "Unterbringung, Hygiene, Behandlung, Verpflegung und Arbeitsbedingungen einen sehr guten Eindruck erhalten". Der SS- Führer habe ihm versichert, es sei verboten, sich an den Häftlingen zu vergreifen. Sogenannte "Greuelmeldungen" von geflohenen Häftlingen werden in der Folge in der Schweizer Presse zensuriert. Noch 1943 versichert Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei, die an der Schweizer Grenze abgewiesenen jüdischen Flüchtlinge würden nur zum Arbeitseinsatz herangezogen, sonst geschehe ihnen nichts. Seit 1997 ist dokumentiert, dass der Bundesrat spätestens 1942 dank des Nachrichtendienstes über die wahre Situation – den Holocaust – genaustens informiert war.

Rothmund warnt 1942: "Wenn wir die Schweizerjuden repatriieren müssten, sind wir übel dran". Er will die "Verjudung der Schweiz" verhindern. Nicht zuletzt versuchten Schweizer Amtsstellen die Rückkehr von SchweizerbürgerInnen auch aus Kostengründen zu verhindern. Als der Schweizer Konsul in Bregenz warnte, die Schweizer Insassen der "Irrenanstalt Valduna" in Voralrberg, die demnächst geschlossen werde, sollten unbedingt in die Schweiz zurückgeführt werden,  entschied die Fremdenpolizei, die "Pfleglinge sollten wenn möglich in andern deutschen Heilanstalten Aufnahme finden.(..) Im Falle der Heimnahme wären die Heimatgemeinden gezwungen, die Krüppel dauernd auf ihre Kosten zu versorgen." Zu diesem Zeitpunkt war das Euthanasieprogramm der Nazis, das 70›000 Menschen tötete, bestens bekannt. Die 129 Schweizer Patienten aus Valduna konnten schliesslich dank Intervention des Konsuls doch noch gerettet werden; die 330 übrigen Insassen wurden ermordet.

Nach dem Krieg gehts im gleichen Fahrwasser weiter

Albert Mülli kehrt In Häftlingskleidern zurück in die Schweiz. Als erstes erhält er eine Steuerrechnung für 7 Jahre Militärdienstersatz. Mülli will über die Nazi- Verbrechen in den KZs berichten; er hält Vorträge. Aber seine Berichte stossen auf kein grosses Interesse. Einige verdächtigen ihn als Kommunisten. Schon bald nach Kriegsende überdeckt der zunehmende Antikommunismus  die Greueltaten der Nazis – der Kalte Krieg beginnt.

Dass auch Überlebende der KZ in der Schweiz lebten, kam in der Nachkriegszeit kaum zur Sprache. Sich für sie zu interessieren hätte unweigerlich das Licht auf die beschämende Rolle der Schweiz gegenüber Nazideutschland  gerichtet. Als 1946 die Allierten der Schweiz erlaubten, 250 Millionen Franken von auf Schweizer Banken eingefrorenen Guthaben deutscher Kriegsverantwortlicher  für Schweizer Opfer des Krieges einzusetzen, setzt sich die schweizerische Bankiervereinigung erfolgreich dafür ein, dass diese Gelder an die deutschen Kontoinhaber zurückbezahlt wurden "um das Ansehen der Schweizer Banken nicht zu beschädigen".

1954 reifte im Bundesrat dann doch noch die Erkenntnis, dass für die Schweizer Opfer etwas getan werden müsste. 1958 wurde eine Kommission zur Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung gebildet. Anspruchsberechtigt waren ausschliesslich Schweizer Bürger. Als Kriterien, nach denen die Höhe der Wiedergutmachung berechnet wurde, galt unter anderm das "Selbstverschulden für den erlittenen Schaden": Dazu zählten Beziehungen zum  antifaschistischen Widerstand, illegaler Waffenbesitz, Hilfeleistung an Juden und Gefangene. Das heisst: Wer sich gegen die Nazi-Diktatur gestellt hatte, erhielt eine geringere oder gar keine Entschädigung. Bei gesundheitlichen Folgen forschte die Kommission  akribisch nach, ob die Probleme nicht schon vor dem KZ bestanden hätten. Albert Mülli stellt 1991, beim Auffliegen der Fichenaffäre, mit Empörung fest, dass er seit seiner Deportation nach Dachau bis 1991 als möglicher Kommunist überwacht und fichiert worden war.

Es ist höchste Zeit dass Albert Mülli und die hunderten von Opfern des Nationalsozialismus in der Schweiz einen Stolperstein erhalten, in Gedenken an sie, an das Versagen der Schweizer Behörden, als Aufruf gegen die Gleichgültigkeit.

Stolpersteine im Jahr 2070?

50 Jahre nach Kriegsende fliegt der Skandal der Schweizer Banken im Umgang mit den nachrichtenlosen Vermögen Verfolgter auf. Die Empörung ist gross. 75 Jahre nach Kriegsende wächst das Bewusstsein über das erschütternde Schicksal schweizerischer KZ- Opfer und das empörende Versagen der Schweizer Behörden. Stolpersteine werden gesetzt.

Wie werden die Menschen in 50 Jahren auf die schweizerische Flüchtlingspolitik des Jahres 2020 zurückblicken? Werden sie sich über Einzelschicksale empören, wie die Geschichte der jungen, hochschwangeren Mutter – aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet -  die samt ihrem Kleinkind im Rahmen des "Dublin-Abkommens" gegen den dringenden Rat ihrer Gynäkologin nach Italien ausgeschafft wird, in ein völlig ungenügendes, überfordertes Asylsystem? Wird man sich mit Entsetzen daran erinnern, dass die Schweiz das Botschaftsasyl abschaffte und sich damit mitverantwortlich machte an tausenden von Toten im Mittelmeer? Wird man ungläubig feststellen, dass sich die Schweiz an der europäischen Frontex-Truppe beteiligte, die entgegen der geltenden Flüchtlingskonvention Flüchtende mit Gewalt von der Festung Europa fernhält? Wird man fassungslos zur Kenntnis nehmen, dass sich die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt nach der Brandkatastrophe im Lager von Moria bereit erklärte, von den 12›000 betroffenen Flüchtlingen gerade mal 20 Jugendliche aufzunehmen?

Denkbar, dass im Jahr 2070 hunderte, tausende Stolpersteine in Europa an das Versagen Europas und der Schweiz zu Anfang des 21. Jahrhunderts erinnern. Es wäre besser, jetzt zu handeln als sich in 50 Jahren zu schämen.

Quellen

www.stolpersteine.ch

Spörri, Balz; Staubli, René; Tuichschmid Benno: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs. Zürich 2020
Albert Mülli, Dachau-Häftling 29331. Ein Podcast von Ronja Maurer. 2020

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An Pfingsten wollen wir uns bewusst machen, dass Tiere unsere Mitgeschöpfe sind. Bringen Sie Hund, Hamster, Katze etc. mit, die wir in der Feier segnen werden.

Citykirche Offener St. Jakob, 19. Mai, 10 Uhr, Pfrn. Verena Mühlethaler

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Mitgestalten - Mitdenken - eine grüne Oase kreieren mitten in der Stadt.

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Interkultureller Frauentreff   |   Das Café Dona ist ein Treff­punkt von Frauen für Frauen, mit Migrant­innen und Schweizer­innen. Flyer

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