«Eine Zweiklassengesellschaft unter Geflüchteten widerspricht der christlichen und humanen Ethik», sagt Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist. Er fordert gleiche Rechte für alle Schutzbedürftigen – und erinnert an den politischen Widerstand reformierter Pfarrer im Zweiten Weltkrieg. Zentrum dieser Oppositionsbewegung war das reformierte Volkshaus, später Kirchgemeindehaus Wipkingen – dort entsteht nun mit dem Haus der Diakonie ein neuer Hoffnungsträger.
Die Bilder haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: Angsterfüllte Menschen, wie sie in U-Bahn-Schächten in Kiew und anderen Grossstädten Schutz suchen vor dem Bombenhagel der russischen Armee. Millionen sind seither gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. «Das Solidaritätsnetz aus Staat, Kirche, privaten Organisationen und internationalen Hilfswerken greift ineinander, wie ich das in 35 Jahren Pfarramt immer wieder erlebt habe», sagt Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist. Grosse Flüchtlingsbewegungen seien in der Tat nicht neu, erinnert auch Alexandra von Weber, Leiterin der Flüchtlingsarbeit im Kirchenkreis neun und Koordinatorin des Deutschunterrichts für Geflüchtete. «2015 nach Ausbruch des Syrien-Kriegs war das Engagement der Zivilgesellschaft ebenfalls gross. Die Menschen spendeten Kleider und Essen – auch unser Netz von freiwilligen Deutschkursleitenden stammt aus dieser Zeit.»
In einem Punkt unterscheidet sich die aktuelle Flüchtlingskrise jedoch von vergangenen: Die ukrainischen Geflüchteten – vorwiegend Frauen und Kinder – durchlaufen kein Asylverfahren, sondern erhalten automatisch den Schutzstatus S. Damit dürfen sie unter anderem praktisch unmittelbar nach ihrer Ankunft eine Arbeit aufnehmen oder Familienangehörige nachziehen. Christoph Sigrist begrüsst dieses solidarische Handeln sehr – und betont gleichzeitig, dass die kirchliche Flüchtlingsarbeit dieses unbürokratische Auffangkultur seit Langem für alle Menschen einfordert – ganz unabhängig von ethischer, religiöser, geschlechtlicher Zugehörigkeit oder der Hautfarbe. «Eine Klassifizierung von Menschen in Not ist nicht zulässig», sagt er, «denn Menschenwürde ist nicht verhandelbar.»
Dass bei den geflüchteten Menschen aus der Ukraine alles viel schneller geht als bei ihnen, sei natürlich auch Asylsuchenden aus anderen Ländern aufgefallen, sagt Alexandra von Weber. Als stossend empfanden viele, dass die öffentlichen Verkehrsmittel anfangs für Ukrainer:innen gratis waren. Denn: Fehlendes Geld für ÖV-Billette ist oft ein grosses Thema. «Rascher Zugang zu Arbeit und zu Integrationsleistungen wären auch für Menschen aus anderen Herkunftsländern, die Schutz bedürfen, wünschenswert», so Alexandra von Weber. Insbesondere der Familiennachzug ist bei vorläufig Aufgenommenen an gewisse Bedingungen geknüpft, die für Menschen mit dem Schutzstatus S nicht zur Anwendung kommen.
Ungleichbehandlungen in der Flüchtlingspolitik existieren laut Christoph Sigrist – für ihn ist es sehr wichtig, dass dieses Thema nicht tabuisiert wird. Er ordnet die aktuellen theologischen und ethischen Fragen in einen historischen Kontext ein: «Ab 1939 war Zürich ein Hotspot des politischen und religiösen Widerstands, der von reformierten Pfarrern getragen wurde. Zentrum des Geschehens war das reformierte Volkshaus – dasselbe Gebäude, in dem später das Kirchgemeindehaus Wipkingen war. Daher auch der Name der «Wipkinger Tagungen» – eine streitbare Plattform zu theologischen Fragen. Ein Ort also mit viel Geschichte – und mit einer hoffnungsvollen Zukunft: Denn dort, wo damals Widerstand geleistet und soziale Brennpunkte angegangen wurden, entsteht in den kommenden Jahren das Haus der Diakonie. Christoph Sigrist wünscht sich für dieses Kirchgemeindehaus der Zukunft, dass dort das Christ:in-Sein in einer multiethischen und multireligiösen Gesellschaft einen Ausdruck findet. Denn: «Kirchliche Diakonie spürt immer die Brennpunkte im Sozialraum auf und reagiert darauf.» Sein grösster Wunsch für die anstehende Transformation ist, dass Ulrich Zwinglis Ausspruch ‹Tut um Gottes Willen etwas Tapferes› zum Grundstein für das Haus der Diakonie wird.
Die Solidarität von Zürcher Pfarrern mit ihren deutschen Berufskollegen führte während der Nazi-Zeit zur Gründung eine der wichtigsten Flüchtlingsorganisationen der damaligen Zeit.
Das Schicksal von Menschen, die Schutz bedürfen, liess auch frühere Vertreter:innen der reformierten Kirche nicht kalt: Paul Vogt, Pfarrer in Seebach, gründete mit dem prominenten Schweizer Theologen Karl Barth und den Pfarrern Emil Brunner und Oskar Farner 1937 eine Anlaufstelle für vom Nationalsozialismus verfolgte Angehörige der Bekennenden Kirche (BK) in Deutschland. Als Oppositionsbewegung widersetzte sich diese Vereinigung der Vereinnahmung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) durch den Nationalsozialismus. Dank der Solidarität der Zürcher Pfarrer mit ihren deutschen Berufskollegen entstand eine der wichtigsten Schweizer Flüchtlingsorganisationen während des Zweiten Weltkriegs: Das Schweizerische Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland (SEHBKD). Impulse dafür gingen vor allem von den «Wipkinger Tagungen» aus: Dort diskutierten die reformierten Pfarrer – vereinzelt auch Pfarrerinnen wie zum Beispiel Rosa Gutknecht – über ethische und theologische Fragen. Aus diesem Engagement ging etwa auch die Freiplatzaktion hervor: Sie versuchte, Geflüchtete bei Privaten statt in Arbeitslagern unterzubringen.
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